Waldregen

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Seit einer Woche folge ich dem Programm des Bestsellers „The Artist’s Way“ von Julia Cameron. Darin stellt sie Künstlerinnen jede Woche neue Aufgaben, um ihr Potential zu entfalten. Meine heutige Aufgabe bestand darin, meine „innere Künstlerin“ auf einen 20-minütigen flotten Spaziergang auszuführen. Ehrlich gesagt musste ich mich dazu überwinden, da ich den Tag bis dahin mit Schokolade, Kaffee und Büchern auf dem Sofa verbracht hatte. Endlich schlüpfte ich in meine Schuhe, nahm Handy und Schlüssel, durchquerte den Garten, verabschiedete mich von den Katzen und trat auf den Feldweg hinter meinem Grundstück. Genau in diesem Augenblick fing es an zu regnen. Schon den ganzen Tag hatte es danach ausgesehen, aber jetzt, jetzt, als ich losging, fielen die ersten Tropfen. Ich überlegte den Spaziergang abzubrechen, dann aber tat ich das, was ich immer tue, wenn mir der Regen dazwischen pfuscht. Ihn ignorieren und weitergehen. So wie damals, als ich in Sydney wohnte und joggen wollte und der Regen aus den Wolken hervorbrach. Am Ende war ich durch die verregnete Großstadt am anderen Ende der Welt gelaufen und heute führte ich eben meine innere Künstlerin aus.

Interessanterweise wollte diese zunächst auf den kleinen Friedhof geführt werden, der neben der Straße lag. Ich öffnete das schmiedeeiserne Tor fand mich drei Jahre nach dem Begräbnis am Grab meines Wachauer Papas. Man könnte ihn auch meinen Mentor nennen, aber Papa finde ich schöner und fühlt sich richtiger an. Ich berührte den Grabstein und bedankte mich für die Freundschaft, die er mir damals entgegengebracht hatte, als ich mit meiner Familie aus Wien in diesen Landstrich gezogen war. Für jeden Ratschlag und jede Unterstützung, die er mir in den Jahren zuteil werden hat lassen, bevor ihn ein jähes Ende aus dem Leben riss. Damals hatte ich auf das Begräbnis geachtet, heute aber fiel mir auf, wie bunt der Friedhof eigentlich war. Auf den Gräbern wuchsen Blumen, die ihre Köpfe in den Himmel hielten und einen Sommerduft verströmten.

Ich machte mich auf den Weg in den Wald und schlüpfte schnell unter die Blätter, denn der Regen war mittlerweile stärker geworden. Er tröpfelte auf meinen Kopf und benetzte mein Gesicht. Also sah ich zu Boden und verpasste deshalb die Ameisenstraße nicht, die Pilze und drei leeren Schneckenhäuser, die ich nebeneinander legte, damit sie nicht so allein waren.

Der Weg führte bergauf und zwang mich meinen Schritt zu verlangsamen. Es regnete noch immer durch das Blätterdach und der Regen benetzte meinen Kopf, meine Arme und mein Shirt. Zudem schwitzte ich, ob vor Anstrengung oder aufgrund der schwülen Luft, konnte ich nicht sagen. Ich wusste auch nicht, wohin ich unterwegs war, was ich suchte und wann mein Spaziergang zu Ende sein würde. Auf jeden Fall wollte ich etwas mitnehmen, schöne Blätter, Steine oder Holz. Mehrmals versperrte mir ein Baumstamm, eingeklemmt zwischen der linken und rechten Anhöhe, meinen Weg. Ich bückte mich darunter weg. Bäume ließen ihre Zweige und Blätter wie einen Vorhang über den Weg hängen, der sich wie ein Graben immer steiler durch den Wald schob. Insekten umschwirrten mich, Blätter segelten von weit oben vor meine Füße und der Regen fiel zwischen den Baumkronen auf mich herab. Auf einem der umgestürzten Bäume bemerkte ich die Ranke einer Kletterpflanze, die sich auf dem Baum hinauf ins Licht gearbeitet hatte. Sie sah aus nicht so dünn aus, wie auf den Bäumen rundum, sondern so dick wie meine Faust. Und obwohl der Baum selbst tot war, lebte auf ihm immer noch die Kletterpflanze, war grün und wuchs üppig.

Und dann sah ich es, das Ziel meiner Reise. Ich wusste instinktiv, dass mich der Wald hierher geführt hatte. Hier war mein Weg zu Ende. Das Ziel war ein Baumstamm mit zwei dicken Ästen, der mitten auf dem Weg lag. Zwischen den Ästen wuchs ein junger Baum, streckte sich hinauf ins Licht. Ein Vogel zwitscherte und die lästigen Insekten verschwanden. Langsam setzte ich mich und blickte den Weg zurück, den ich gekommen war. Es war also möglich, dass zwischen Altem auch Neues wuchs. Der Gedanke tröstete mich. Irgendwann stand ich auf und ging den rutschigen Weg zurück. Ich setzte einen Fuß vor den anderen. Es hatte aufgehört zu regnen und der blaue Himmel leuchtete durch das Dach der Blätter. Ich kam vorbei an den drei Schneckenhäusern, kroch wieder unter den umgefallenen Bäumen hindurch, zog den Blättervorhang zur Seite und dann war ich draußen, aus dem Wald. Die Sonne trocknete meine Haare und eine große Libelle begleitete mich ein Stück des Wegs zurück zu den Häusern. Ich hatte nichts aus dem Wald mitgebracht, oder doch? Statt Steinen, Blättern oder Holz, hatte er mir drei Erkenntnisse mitgegeben:

  1. Manchmal braucht man im Leben eine Kletterhilfe. Eine Hilfe, Unterstützung, ein Netzwerk und es ist ok diese Hilfe anzunehmen.
  2. Zwischen Altem und Kaputten kann etwas Neues entstehen und wachsen.
  3. Wenn man bei Regen losgeht, ist es immer noch möglich bei Sonnenschein anzukommen.

Ich hatte das Gefühl nicht von einem Spaziergang, sondern aus einem Seminar zurück ins Leben zu kommen. Leichten Schrittes ging ich nach Hause zurück. Im Garten warteten bereits die Katzen und begrüßten mich. In Camerons Buch hatte ich gelesen, dass mir Unglaubliches widerfahren würde, wenn ich meine Künstlerin auf diesen Spaziergang mitnahm. Und so war es ja auch gekommen. Ob meine Erlebnisse nun der Veränderung in meinem Leben durch dieses Buch geschuldet waren oder nicht, machte keinen Unterschied. Ich wusste nun, dass etwas Neues zwischen dem Alten entstehen konnte, dass ich ein Netzwerk dafür brauchte und obwohl es vielleicht im Leben gerade regnete, schlussendlich im Sonnenschein ankommen würde.

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